Englands Medievalfestival.com

Bodo R. Meyer: Was hat dich dazu bewegt, das England’sMedieval Festival ins Leben zu rufen?
Clive Geissler: Also, von Anfang an: Vor 20 Jahren wurde das Herstmonceux Castle hier in East-Sussex für eine kanadische Uni namens Queens University (in Kingston, Ontario, Canada) gekauft. Der Käufer war ein Alumni der Uni, der das Anwesen an die Uni weitergeben wollte damit diese es zu einer Art internationalem Studien-Ort macht, an den kanadische Studenten kommen können, um ihr internationales Verständnis und ihr Wissen über europäische Kulturen zu vergrößern.

Mein Bruder und ich waren beide ebenfalls Studenten der Queens University, wir haben Business studiert. Meine Mutter war Engländerin und gebürtig aus der Gegend, ich bin nach meinem Uni-Abschluss nach England emigriert und habe als Flugzeug-Captain bei einer britischen Airline gearbeitet. Der Verkauf des Schlosses ging während meiner Zeit hier über die Bühne, und der damalige Direktor der Uni war einer meiner ehemaligen Wirtschafts-Professoren. Er wusste, dass ich hier war, und er fragte mich, ob ich nicht zum Schloss fahren könnte, um mir das Anwesen mal anzusehen. Das hab ich getan, und er sagte, „Wir sind eine Uni, und jetzt haben wir hier ein Schloss aus dem 15. Jahrhundert – was machen wir, um das Ganze zu bezahlen? Das wird eine riesige finanzielle Belastung, außerdem haben wir einige Auflagen bekommen um es übernehmen zu dürfen. Auf jeden Fall müssen wir das Gebäude als Bildungsstätte nutzen oder dort historische Events veranstalten – wir können den Ort nicht einfach vor der Öffentlichkeit verriegeln. Kannst Du uns helfen? Also habe ich recherchiert und ihm gesagt, „Klar, ich kann euch helfen.“
1992 haben wir dann angefangen, das Gelände wieder für Besucher zu öffnen. Zuvor war es fast 15 Jahre geschlossen gewesen, sodass alles langsam anfing zu verfallen. Zuvor war dort das Royal Greenwich Observatorium gewesen, das aber umziehen musste, weil aus London zu viel Licht herüberschien und die Arbeit an astronomischen Beobachtungen zu schwierig machte. Die Besitzer wollten das Anwesen aber nur an jemanden weitergeben, der es auch im historischen Sinne nutzen würde, also keinen Golfpark oder so daraus macht. Als das Gelände als Observatorium genutzt wurde, hatte man alle Hinweisschilder auf das Schloss entfernt, weil die Forscher dort nicht wollten, dass Leute kommen und so ihre Arbeit stören. Das hieß, dass wir das Schloss überhaupt erst mal wieder in das Gedächtnis der Leute zurückbringen mussten. Die beste Idee dazu schien uns, ein Mittelalter Festival zu veranstalten. Und das fand dann zeitgleich mit der Wiedereröffnung des Geländes statt, beides am selben Tag im Juli 1992. Im nächsten Jahr haben wir das Festival auf zwei Tage, ein Wochenende im Juli, verlängert. Als sich dann zeigte, dass das wirklich gut ankommt, haben wir es auf das Bankfeiertag-Wochenende im August gelegt, also auf insgesamt 3 Tage verlängert. Seit 1994 ist es jetzt so geblieben.
Unser großes Ziel war und ist, dass das England’sMedievalFestival das größte und beste Mittelalter Festival in England wird. Die beste Methode, ein Schloss bekannt und beliebt zu machen, ist eben, dort ein großes Event zu veranstalten. Wir hatten bemerkt, dass quasi jedes noch so kleine mittelalterliche Schloss in England immer auch ein mehr oder weniger großes Event beherbergt. Das waren aber immer nur sehr kleine Sachen, wie zum Beispiel eine Ausstellung oder vielleicht mal Ritterspiele. Aber unsere Idee war bis jetzt einzigartig, nämlich alle kleinen Sachen in einem großen Festival zu vereinen. Und zwar wirklich alle; von den schönen bis zu den schlechten Seiten des Mittelalters. Also haben wir zum Beispiel Duelle nach- und Kanonen ausgestellt, aber gleichzeitig auch ein typisches Dorf und fahrende Händler mit Schauspielern wieder zum Leben erweckt. Unser Ziel war dabei nicht, ein möglichst großes Spektakel zu veranstalten für das wir Mengen an Geld ausgeben – wir wollten ein originelles, lebendiges, atmendes Festival erschaffen. Also haben wir Wettbewerbe ins Leben gerufen, für alle Aussteller und Schausteller, die so mit ihren Arbeiten Preise gewinnen können. Daraufhin haben einige angefangen, sogar mittelalterliche Zeremonien bis hin zu Hochzeiten nachzustellen – viele Besucher haben das sogar genutzt, sich verheiraten zu lassen. Es haben sich Paare gefunden, die nun auch ihre Kinder mit zum Festival bringen, und nach mittlerweile 20 Jahren haben wir eine Generationengrenze durchbrochen. Erwachsene, die schon als Kinder kamen, kommen jetzt mit ihren eigenen Kindern und machen eine Familientradition daraus.
Nach 20 Jahren wächst das Festival immer noch, und wir wollen sicher sein, dass niemand sich langweilt, egal wie oft er wieder kommt. Mittlerweile gibt es drei Bühnen mit fast pausenlosem Programm, ebenso drei Arenen, auf dem gesamten Gelände sind Schausteller und Musiker unterwegs, es gibt zwei mittelalterliche Tavernen und rund 100 Händler. Eine ganze Menge Angebote also – in einer großartigen, familiären Atmosphäre.

Mit all deiner gesammelten Erfahrung, würdest du irgendetwas anders machen, wenn du das Festival nochmal ganz von Anfang an aufbauen könntest? Würdest du es überhaupt nochmal machen wollen, wenn du die Wahl hättest?

Das Ganze ist eine Herzensangelegenheit. Wir ziehen aus dem Festival keine großen Geldsummen ä natürlich verdienen wir etwas, in manchen Jahren mehr als in anderen. Aber das eigentliche Ziel ist es, die Erhaltung des Schlosses und des Geländes zu finanzieren, und dahinein fließt auch das meiste Geld. Die Planung und Arbeit für das Festival ist für uns quasi ein Familien-Event – mein Bruder kümmert sich um das gesamte Back-Office, ich bin als Gesicht des Festivals mit Interviews und Preisverleihungen beschäftigt. Meine Ehefrau und die meines Bruders arbeiten auch mit, genau wie unsere Kinder. Meine Eltern haben 15 Jahre lang mitgeholfen, alle handgemalten Schilder auf dem Festival zum Beispiel, die hat mein Schwiegervater gemacht. Dazu kommen unsere Tanten, Onkel – so gut wie alle Familienmitglieder und auch Freunde unterstützen uns. Wir treffen uns alle einmal im Jahr hier, und das ist dann wie ein dreitägiges Weihnachten – aber anders als bei gewöhnlichen Weihnachts-Familientreffen wird es uns nie langweilig. Jeden Abend haben wir alle jede Menge zu erzählen.

Die letzten 20 Jahre haben uns wirklich jede Menge Arbeit und Zeit gekostet. Aber jedes Jahr macht es uns dann unglaublich glücklich, all die begeisterten Besucher zu sehen.Wenn all die Freude an der Sache nicht wäre, würden wir das Festival auch nicht veranstalten.
Es ist ein bisschen, wie wenn man in seiner Wohnung eine Party geben will – du fragst dich, ob überhaupt jemand kommen wird und bist unruhig, aber wenn dann die Leute da sind, bist du total glücklich.
Also: Wir freuen uns auf die nächsten 20 Jahre und hoffen, dass unsere Kinder das Ganze irgendwann weiterführen.

Hast du mittlerweile überhaupt noch Zeit für einen regulären Job?
Ja, ich arbeite immer noch als Pilot. Ich fliege nach wie vor Vollzeit und lebe eigentlich zur Zeit in Dubai.

Also bist du extra fürs Festival hergeflogen?
Praktischerweise fliegt die Airline für die ich arbeite 6mal am Tag nach Heathrow. Also versuche ich einmal die Woche nach London zu kommen um einen Tag im Büro zu verbringen.
Wenn ich 20 Jahre zurückdenke – da hatten wir noch nichtmal einen Computer. Als wir uns ein Fax zugelegt haben, dachten wir jetzt kommt die große Technik-Revolution. 1994 haben wir unseren ersten Laptop gekauft, so dick wie eine Bibel. Mittlerweile haben wir natürlich die Technik um von jedem Ort der Welt aus alles zu organisieren und zu planen. Wir müssen uns nur noch einmal im Jahr – also im August, zum Festival selbst – treffen. Bevor das so war, haben wir uns alle immer schon am ersten Juli getroffen und 2 komplette Monate damit verbracht, das Festival auf die Beine zu stellen.

Das waren bis jetzt eine ganze Menge Informationen. Wahrscheinlich hast du das alles mittlerweile auswendig drauf?
Das nicht – ich bin einfach mit ganzem Herzen dabei. Ich kann mich an so gut wie jedes Detail der letzten 20 Jahre erinnern. Wahrscheinlich könnte ich mittlerweile ein ganzes Buch schreiben. (lacht)

Wie hat sich eigentlich eure Verbindung zur MSS (Medieval Siege Society) ergeben?
Das ist eine ganze interessante Geschichte. Du merkst es vor allem, wenn du dir die Artikel der MSS in unserem Jubiläums-Programm durch liest. Als die MSS anfing, war sie eine wirklich kleine Gruppe. Wir haben Phil Fraser (Mitbegründer des MSS, Anm. d. Red.) damals getroffen, der übrigens mittlerweile jedes Jahr als Händler hier ist, und haben ihm davon erzählt, dass wir ein paar Schausteller-Gruppen zusammentrommeln wollen um ein Festival zu organisieren. Er war anfangs sehr skeptisch, weil er mich nicht kannte und auch bezweifelte, dass wir sie bezahlen können. Wahrscheinlich war unsere Anfrage etwas zu direkt. Wir haben ihm dann die ganze Geschichte erklärt; dass wir verpflichtet sind, uns um das Schlossgelände zu kümmern und was Gutes daraus zu machen.Schließlich war es unser Ziel einen guten Ruf aufbauen, und durften deswegen keine halben Sachen zu machen.

Schau dir das vom Marketing-Standpunkt an: Du kannst dir im Pub einen riesigen aber billigen Pint Bier bestellen, oder du bestellst dir eine teure, kleine Flasche Pilsener, die aber qualitativ viel hochwertiger ist. Dieses Prinzip wollten wir auch auf das Festival anwenden.
Wir haben jetzt mit so vielen Leuten gesprochen, die jedes Jahr immer wieder kommen, teilweise schon seit 10 oder 15 Jahren. Als die MSS anfing, war das eine sehr kleine Gruppe, und der Erfolg des Festivals hat auch ihnen eine Menge Erfolg eingebracht. Mittlerweile ist es sogar so, dass viele nur deswegen Mitglieder bei der MSS werden, damit sie eine Einladung für unser Festival bekommen. Die MSS ist also mit uns gewachsen. Darüber sind wir sehr glücklich.
Und wir sind mittlerweile auch einfach etwas Besonderes geworden. Ich meine, wir campen hier auf diesem Schlossgelände aus dem 15. Jahrhundert – ich weiß nicht wie es in Deutschland ist, aber hier in England gibt es Regeln für alles. Die meisten Schlösser gehören Erben, die dir normalerweise nicht mal erlauben einen Hering ins Gras zu hämmern. Hier sind wir viel freier, du kannst zwischen den Kräutergärten herumlaufen und dein Zelt aufschlagen, es ist eine total familienfreundliche Angelegenheit. Wir haben vernünftige Toiletten und Duschen und all das. Es ist hier wie Ferien, auf die sich alle das ganze Jahr freuen.

In Deutschland wäre soetwas wahrscheinlich gar nicht möglich. Bei uns gibt es zwar auch Mittelalter-Festivals, aber die sind ganz selten auf Schlossgeländen, meistens einfach auf großen Wiesen. Und spätestens seit der Katastrophe auf der Loveparade in Duisburg lastet so viel gesetzlicher Druck, so viel Verantwortung auf Festival-Veranstaltern, dass allein eine Versicherung wohl schon den finanziellen Rahmen sprengen würde.

Das ist ein Problem, über das wir in letzter Zeit leider auch oft sprechen. In Nord-Amerika, wo wir herkommen, sind die Versicherungen für Festivals mittlerweile so teuer, dass man absolut vergessen kann, am Ende mit Gewinn nach Hause zu gehen. In dieser Beziehung war England immer ein großartiges Land. In den ersten Jahren auf dem Festival haben sich die Leute, wenn sie zum Beispiel hingefallen sind, sogar noch bei uns entschuldigt dass sie uns Umstände machen, wenn wir ihnen ein Pflaster gebracht haben. Mittlerweile könte dieselbe Person uns sofort verklagen, wenn sie sich verletzt. Die Dinge haben sich ziemlich geändert. Auch deswegen setzen wir viel mehr auf Qualität als Quantität. Je größer das Festival wird, umso mehr Leute kommen, und das verändert schon die Atmosphäre. Ich habe neulich mit dem Veranstalter eines viel größeren Events gesprochen, der total froh erzählte, beim letzten Mal nur weniger als 100 Verhaftungen gehabt zu haben. Und wir? Wir brauchen hier nirgends Polizei. Bevor eine Situation eskaliert, haben bisher immer Besucher schlichtend eingegriffen. Alle sind rücksichtsvoll und wollen einfach nur ihre Zeit hier genießen. In 20 Jahren hatten wir hier noch keinen einzigen größeren Unfall.

Das macht sich auch in der Stimmung bemerkbar. Ich habe das Gefühl, die Leute kommen von überall.

Das stimmt! Wir sind quasi die vereinigten Festival-Staaten. (lacht) Ständig kommen Leute und fragen, ob sie nicht ihre Freude hierher einladen können, die dies oder das gern hier zur Schau stellen möchten. Teilweise kommen sie sogar aus Übersee – und wir sagen nie nein. Wir spielen hier nicht Politik oder stellen uns auf irgendjemandes Seite. Solange die Leute etwas Geschmackvolles zeigen wollen, sind sie herzlich eingeladen. Mittlerweile haben wir Schausteller aus Dänemark, Frankreich, Deutschland, Belgien – aus ganz Europa, und in der Vergangenheit sogar von verschiedenen Kontinenten. Wir wachsen mittlerweile jedes Jahr um rund 5%.

Gina Fringante